zum Inhalt springen
Panel 2: Verständliche Gesetzestexte – verschiedene Aspekte der Textarbeit

Das Gesetz befiehlt, die „Botschaft“ erklärt. Arbeitsteilung zwischen zwei Textsorten

 

Rebekka Bratschi

30. September 2021

urn:nbn.de:hbz:38-535586

 


Open Access PDF-Download from USB Journals, Zeitschrift für Europäische Rechtslinguistik


1 Einleitung

< 1 >

Gemäß heutiger Auffassung soll das Gesetz nur Normatives enthalten, sich also auf den reinen Gesetzesbefehl beschränken. Lex jubeat, non disputet: Das Gesetz soll befehlen, nicht erklären, begründen, erläutern, illustrieren, motivieren. Dieser Grundsatz der „normativen Relevanz“ (Lötscher 1995: 117) findet sich nicht nur in vielen Regelwerken zur Gesetzgebung (so zum Beispiel im Gesetzgebungsleitfaden 2019: Rn. 581), sondern wird auch von der modernen Rechtsetzungslehre vertreten.1 Eine Vermischung von Rechtsnormen mit Erklärungen und Begründungen wird abgelehnt, weil dann unter Umständen der Charakter der einzelnen Textelemente nicht mehr klar ist (Norm oder Erklärung?), was zu Unsicherheiten bei der Interpretation führen kann (vgl. Müller/Uhlmann 2013: Rn. 302).

< 2 >

Die Beschränkung auf normative Elemente bedeutet gleichzeitig: Viele der Strategien, die man üblicherweise anwendet, um die Verständlichkeit eines Textes zu fördern und seine Akzeptanz bei der Zielgruppe zu erhöhen, können bei Gesetzestexten nicht eingesetzt werden. Dies ist insofern nicht optimal, als jedes Gesetz natürlich darauf abzielt, möglichst gut befolgt zu werden. Es fehlen ihm aber gerade die üblichen verständlichkeits- und akzeptanzfördernden Elemente. Begründungen und Erklärungen beispielsweise können dazu beitragen, die hinter einem Gesetzestext stehende Regelungsabsicht zu verdeutlichen und damit zur Akzeptanz des Gesetzes beizutragen. Denn wenn man den Grund für eine Regelung kennt, akzeptiert man sie oft eher, als wenn man sie einfach vorgesetzt bekommt. Schon Platon war im Übrigen der Meinung, dass die Adressaten eingestimmt und nicht mit purer „Gewalt“ überzeugt werden sollten (vgl. Fögen 2007: 10).

< 3 >

Daher haben sich andere Textsorten herausgebildet, die das Gesetz oder, in dessen Entstehungsphase, den Gesetzesentwurf begleiten und bestimmte der Funktionen übernehmen, die der Gesetzestext selbst nicht übernehmen kann. Um eine dieser Textsorten geht es im vorliegenden Beitrag, nämlich um die „Botschaft“ aus dem Schweizer Gesetzgebungsverfahren. Zunächst erläutere ich kurz, was eine Botschaft ist und in welchem Verhältnis sie zum Gesetz steht (Abschnitt 2). Danach gehe ich auf die textuelle Verknüpfung von Botschaft und Gesetz ein (Abschnitt 3) und illustriere die Beziehung zwischen diesen beiden Textsorten anschließend anhand von drei konkreten Beispielen (Abschnitt 4).

 

2 Die Botschaft als Begleiterin des Gesetzes

< 4 >

In der Schweiz werden neue Gesetze oder Änderungen bestehender Gesetze in der Regel von der Verwaltung ausgearbeitet. Der fertige Gesetzesentwurf wird von der Regierung als offizieller Regierungsentwurf ans Parlament überwiesen. Dieses berät den Entwurf, passt ihn an, verabschiedet ihn und setzt das definitive Gesetz in Kraft.

Für die Übergabe des Gesetzesentwurfs von der Regierung ans Parlament regelt das Parlamentsgesetz (ParlG)2 Folgendes:

Art. 141 Botschaften zu Erlassentwürfen

1 Der Bundesrat [= Regierung] unterbreitet der Bundesversammlung seine Erlassentwürfe zusammen mit einer Botschaft.

2 In der Botschaft begründet er den Erlassentwurf und kommentiert soweit nötig die einzelnen Bestimmungen. […]

 

Die Regierung darf dem Parlament demnach nicht einen „nackten“ Gesetzesentwurf vorsetzen, sondern muss diesen mit einem begründenden und kommentierenden Begleittext versehen, der den sprechenden Namen „Botschaft“ trägt.

< 5 >

Botschaften folgen einem festen Muster und haben einen standardisierten Aufbau, der im Botschaftsleitfaden (2020: 23 f.) festgelegt ist. Primäres Zielpublikum einer Botschaft sind die Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Im gleichen Moment, in dem die Regierung ihren Gesetzesentwurf ans Parlament überweist, wird auch die dazugehörige Botschaft überwiesen, und Gesetzesentwurf und Botschaft werden im Bundesblatt (BBl) amtlich publiziert.3 Faktisch wird eine Botschaft jedoch von einer Vielzahl von Lesergruppen genutzt, unter anderem von rechtsetzenden, rechtsanwendenden und rechtsprechenden Instanzen oder auch von den Medien. Ist das Gesetz erst einmal in Kraft, so wird die Botschaft zu einem festen Bestandteil der Materialien, die für die Rechtsauslegung herangezogen werden.

< 6 >

Die Botschaft ist ein typischer Begleittext, der zusammen mit dem Haupttext, dem Gesetz, gelesen werden muss. Die Botschaft soll – so legt es der zitierte Artikel 141 ParlG fest – den Gesetzesentwurf begründen und die einzelnen Bestimmungen kommentieren. Das heißt, die Botschaft nimmt all die nichtnormativen Elemente auf, die im Gesetzestext selbst keinen Platz finden: Begründungen, Erklärungen, Erläuterungen, Kommentierungen usw. Die Botschaft beschränkt sich dabei keineswegs auf reine Information, sondern ist darauf ausgerichtet, für das Gesetzesvorhaben zu werben:

Mit der Botschaft soll der Bundesrat:

• das Parlament darüber informieren, was er vorschlägt, welche politischen Ziele er damit verfolgt, welche Probleme gelöst werden sollen und welche Auswirkungen die Vorlage haben wird;

• seinen Antrag begründen und das Parlament vom Vorzug seines Antrags gegenüber anderen Lösungen überzeugen.

(Botschaftsleitfaden 2020: 7)4

 

< 7 >

Es gibt somit eine klare Arbeitsteilung zwischen Gesetz und Botschaft. Das Gesetz befiehlt, aber es will und soll nicht informieren oder überzeugen. Die Informations- und Überzeugungsarbeit wird an die Botschaft ausgelagert. Die Botschaft übernimmt damit diejenigen Funktionen, die der Gesetzestext selber nicht übernehmen kann, die aber seine „Erfolgschancen“ erhöhen. Man könnte auch sagen: Das Gesetz hat einen direktiven, die Botschaft einen persuasiven Charakter. Die beiden Textsorten sind funktional komplementär. Die Arbeitsteilung zwischen Gesetz und Botschaft zeigt sich auch an der Sprache: Während die Gesetzesbestimmungen meist relativ kurz und neutral formuliert sind, sind die dazugehörigen Ausführungen in der Botschaft in der Regel umfangreicher und enthalten nicht selten auch rhetorische, meinungssteuernde Elemente.

< 8 >

Natürlich ist diese Trennung nicht absolut strikt. Auch das Gesetz enthält Teile, die nicht oder nicht direkt normativen Charakter haben (zum Beispiel Zweck- oder Gegenstandsbestimmungen oder auch paratextuelle Elemente wie Titel oder Artikelüberschriften). Manchmal wird sogar versucht, in einem Gesetz persuasive Elemente unterzubringen, etwa indem Schlagwörter aus öffentlichen Debatten wie „Abzocker“ oder „Potentatengelder“ in den Gesetzestitel eingebaut werden. Gesetze sind eben doch nicht nur juristische Texte, sondern ein Stück weit auch politische Texte, die auf politische Ziele ausgerichtet sind und als solche um Zustimmung werben (Bratschi 2021: 44–48; vgl. auch Nussbaumer 2002).

 

3 Gesetz und Botschaft als Intertextualitätsgeflecht

< 9 >

Gesetz und Botschaft sind also durch Arbeitsteilung und funktionale Komplementarität gekennzeichnet. Dies hat zur Folge, dass eine Botschaft und der dazugehörige Gesetzesentwurf auch textuell eng verknüpft sind. Die Verknüpfung verläuft dabei ziemlich einseitig: Es ist hauptsächlich der Botschaftstext, der sich auf den Gesetzestext bezieht, nicht umgekehrt.5 Bei Botschaften handelt es sich damit um Texte, die durch starke Intertextualität gekennzeichnet sind. Dies gilt sowohl auf der Ebene der Textsorte als auch auf der Ebene der Einzeltexte.

Die Existenz der Textsorte Botschaft ist bedingt durch die Textsorte Gesetz. Ohne Gesetz gibt es keine Botschaft. Mit anderen Worten: Intertextualität ist für die Textsorte Botschaft konstitutiv. Im Rechtswesen gibt es eine ganze Reihe von solchen aufeinander bezogenen Textsorten, die oft feste „Textsortenketten“ (Adamzik 2016: 341) bilden. Der Gesetzesentwurf und die Botschaft sind zwei Glieder einer solchen Textsortenkette.

Auch konkrete Botschaften als Einzeltexte beziehen sich immer auf ein konkretes anderes Textexemplar, nämlich auf den Gesetzestext, den sie kommentieren. So ist wenig überraschend, dass Botschaften zahlreiche Intertextualitätshinweise enthalten, mit denen sie ihre Verknüpfung mit dem zugrundeliegenden Gesetz anzeigen.

< 10 >

Intertextualitätshinweise können entweder global oder lokal sein (vgl. Höfler 2020: 43–53). Mit globalen Hinweisen lassen sich zwei Texte als Ganze verknüpfen. Für eine solche Globalverknüpfung der Botschaft mit dem dazugehörigen Gesetzestext werden die Titel genutzt: Der Botschaftstitel wird parallel zum Titel des dazugehörigen Gesetzes formuliert und zeigt dadurch die Zusammengehörigkeit der beiden Texte (und allenfalls noch weiterer Texte) an:

(1) a. Bundesgesetz über den unterirdischen Gütertransport6

b. Botschaft zum Bundesgesetz über den unterirdischen Gütertransport

 

(2) a. Schweizerisches Zivilgesetzbuch (Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister)7

b. Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister)

 

(3) a. Bundesgesetz über die Durchführung von internationalen Abkommen im Steuerbereich8

b. Botschaft zum Bundesgesetz über die Durchführung von internationalen Abkommen im Steuerbereich (Totalrevision des Bundesgesetzes über die Durchführung von zwischenstaatlichen Abkommen des Bundes zur Vermeidung der Doppelbesteuerung)

 

Ganz zu Beginn der Botschaft, im einleitenden „Brief“ der Regierung ans Parlament, wird auf den der Botschaft zugrunde liegenden Text jeweils auch explizit Bezug genommen:

(4) Botschaft zum Bundesgesetz über den unterirdischen Gütertransport9

Mit dieser Botschaft unterbreiten wir Ihnen, mit dem Antrag auf Zustimmung, den Entwurf des Bundesgesetzes über den unterirdischen Gütertransport.

 

< 11 >

Auch die einzelnen Teile der Botschaft beziehen sich mehr oder weniger explizit auf den Gesetzestext oder Teile davon. Der Teil „Erläuterungen zu einzelnen Artikeln“, der gemäß Botschaftsleitfaden (2020: 23) Teil jeder Botschaft sein muss, knüpft dabei am engsten ans Gesetz an: Er folgt genau der Struktur des zugrundeliegenden Gesetzestextes, verweist explizit auf einzelne Gesetzesbestimmungen und kommentiert diese.

(5) Art. 1 des Bundesgesetzes über den unterirdischen Gütertransport10

Gesetz

Art. 1 Gegenstand und Zweck

1 Dieses Gesetz regelt den Bau und Betrieb von interkantonalen Anlagen für den unterirdischen Gütertransport und den Betrieb von Fahrzeugen auf diesen Anlagen.

2 Der unterirdische Gütertransport soll auf privater Initiative beruhen und eigenwirtschaftlich erbracht werden. Er soll zur nachhaltigen Entwicklung des Gütertransports in der Schweiz beitragen und die Güterversorgung insbesondere in Städten und

Agglomerationen effizienter und umweltfreundlicher machen.

 

Art. 2 Geltungsbereich

1 Das Gesetz gilt für die folgenden Anlagen und Fahrzeuge: […]

Botschaft

5 Erläuterungen zu einzelnen Artikeln

Art. 1 Gegenstand und Zweck

Das Gesetz schafft die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein neues Transportsystem zur kantonsübergreifenden Beförderung von Gütern, welches weitestgehend unterirdisch angelegt ist.

Absatz 2 beschreibt den Zweck des Gesetzes. Er hält fest, dass der Aufbau und der Betrieb aufgrund privater Initiative und eigenwirtschaftlich erfolgen sollen. Mit diesen Grundlagen soll ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung des Gütertransports in der Schweiz geleistet werden. Insbesondere die angestrebte effizientere und umweltfreundlichere Abwicklung der City-Logistik kann dazu einen Beitrag leisten.

 

Art. 2 Geltungsbereich

Absatz 1 umschreibt den Geltungsbereich, indem die Anlagenteile benannt werden. […]

 

Jede Botschaft enthält eine Vielzahl solcher expliziten Verweise. Diese dienen als lokale Intertextualitätshinweise: Mit ihnen werden gezielt bestimmte Passagen aus Gesetz und Botschaft miteinander verknüpft.

< 12 >

Die zahlreichen Bezüge in der Botschaft bewirken eine „greifbare Anwesenheit“ (Pfister 1985: 17) des Gesetzes in der Botschaft. Die Intertextualität ist stark ausgeprägt: Die Botschaft richtet sich am Gesetz aus, macht dieses zu ihrer Folie, stellt bewusste und explizit markierte Bezüge zum Gesetzestext her, verweist auf diesen, zitiert ihn, kommentiert ihn metatextuell und lässt so keinen Zweifel daran, welches der Haupt- und welches der Begleittext ist.

 

4 Beispiele

< 13 >

Im Folgenden soll nun anhand von drei Beispielen gezeigt werden, wie dieses Zusammenspiel von Gesetz und Botschaft konkret funktioniert. Alle Beispiele stammen aus dem Kapitel „Erläuterungen zu einzelnen Artikeln“ der Botschaft, in dem einzelne Gesetzesbestimmungen kommentiert werden.

 

4.1 Erläuterung auslegungsbedürftiger Begriffe

< 14 >

Rechtsnormen werden in Sprache gefasst, und Sprache ist auslegungsbedürftig. Häufig finden sich daher in Botschaften Hinweise darauf, wie man eine Gesetzesbestimmung oder einzelne Formulierungen oder Begriffe zu verstehen hat.

(6) Art. 26 Abs. 2 Bst. a des Bundesgesetzes über den Verkehr mit Tieren und Pflanzen geschützter Arten (BGCITES)11

Gesetz

Art. 26 Widerhandlungen

2 Die Strafe ist Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe, wenn die Widerhandlung:

a. eine grosse Anzahl von Exemplaren von Arten nach den Anhängen I und II CITES [= Artenschutzübereinkommen] betrifft;

Botschaft

Art. 26 Widerhandlungen

[…] Schliesslich soll ein Verbrechen vorliegen, wenn durch die Widerhandlung eine grosse Anzahl von Exemplaren betroffen ist, die in den Anhängen I und II CITES aufgeführt sind (Bst. a). Eine „grosse Anzahl“ geschützter Exemplare liegt beispielsweise vor bei hundert Kilo Elfenbein vom Elefanten (Anhang I), mehr als fünfzig Schals aus der Wolle der Tibetantilope (Anhang I) oder mehreren tausend Glasaalen (Anhang II). […]

 

In diesem Beispiel wird der unbestimmte Begriff „grosse Anzahl“ konkretisiert durch verschiedene Beispiele. Typisch ist hier die Verwendung der Anführungszeichen, die signalisieren, dass ein Ausdruck aus dem Gesetz erläutert wird. Dieses Verfahren, dass auslegungsbedürftige Begriffe mit Inhalt gefüllt, präzisiert und konkretisiert werden, kommt in Botschaften häufig vor.

 

4.2 Erklärung für Nichtjuristen

< 15 >

Wie oben erwähnt (vgl. Rn. 5), richtet sich eine Botschaft an verschiedene Zielgruppen. Dazu gehören Juristinnen und Juristen, aber auch juristische Laien (z.B. viele Parlamentarierinnen und Parlamentarier). Mit dem Wissen um das Zusammenspiel von Gesetz und Botschaft kann versucht werden, diesen verschiedenen Zielgruppen Rechnung zu tragen.

(7) Art. 26 Abs. 1 BGCITES12

Gesetz

Art. 26 Widerhandlungen

1 Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe wird bestraft, wer vorsätzlich: […]

Botschaft

Art. 26 Widerhandlungen

[…]

Der Grundtatbestand (Abs. 1) der Strafbestimmung soll nicht mehr als Übertretung, sondern als Vergehen ausgestaltet werden. […]

 

Die Information in der Botschaft, dass es sich beim Tatbestand von Absatz 1 um ein Vergehen handelt, ist für Nichtjuristinnen und -juristen bestimmt. Juristinnen und Juristen entnehmen diese Information direkt der Strafbestimmung im Gesetz. Der dort genannte Strafrahmen („Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe“) zeigt ihnen an, dass es um ein Vergehen und nicht um eine Übertretung geht. In der Botschaft versucht man ergänzend dazu, die Tragweite der Strafbestimmung auch einem nichtjuristischen Publikum deutlich zu machen. Diese „Popularisierung“ oder „Vulgarisierung“ trägt dazu bei, die Gesetzesbestimmung verständlicher zu machen, und ist eine Möglichkeit, wie man dem Problem der Mehrfachadressierung von Gesetzestexten begegnen kann.

 

4.3 Umgang mit der Mehrsprachigkeit des Schweizer Rechts

< 16 >

Die Schweiz ist bekanntlich ein Land mit drei Amtssprachen: Deutsch, Französisch und Italienisch. Das heißt, alle Gesetze liegen in drei gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen vor, und auch die Botschaften gibt es in drei Sprachfassungen.

Die deutsche Version der Botschaft bezieht sich normalerweise auf den deutschen Gesetzesentwurf, die französische Version auf den französischen Entwurf und die italienische Version auf den italienischen Entwurf. Es kommt jedoch vor, dass in einer Botschaft auf eine anderssprachige Version des Gesetzes Bezug genommen wird. Meist geschieht dies zur Klärung von Übersetzungs- oder Terminologiefragen.

(8) Art. 10 Abs. 2 des Veloweggesetzes (DE)13

Gesetz

2 [Die Kantone] können den privaten Fachorganisationen Aufgaben in diesen Bereichen übertragen.

Botschaft

Absatz 2: Die Kantone können die Fachorganisationen aber nicht nur zur Aufgabenerfüllung beiziehen. Gegebenenfalls ist es sinnvoll und effizient, wenn sie den Fachorganisationen die Ausführung konkreter Aufgaben ganz oder teilweise übertragen und sie dafür entsprechend entschädigen. Im Französischen wird dafür der Ausdruck „déléguer“ verwendet, anders als im FWG [= Fuß- und Wanderweggesetz], das von „confier“ spricht (im Deutschen beide Male „übertragen“).

In den französischen Versionen lauten die beiden Passagen wie folgt:

(9) Art. 10 Abs. 2 des Veloweggesetzes (FR):

Gesetz

2 Ils peuvent déléguer des tâches relevant de ces domaines à ces organisations.

Botschaft

Al. 2: les cantons ne sont pas tenus de limiter leur collaboration avec les organisations spécialisées à l’exécution de leurs propres tâches. Le cas échéant, il est judicieux et efficace qu’ils délèguent à ces organisations tout ou partie de tâches concrètes et qu’ils les indemnisent en conséquence. Le terme „déléguer“ utilisé dans la nouvelle loi correspond au terme „confier“ utilisé dans la LCPR (übertragen en allemand).

 

Hier erklären die deutsche und die französische Fassung der Botschaft, dass im deutschen Entwurf des Veloweggesetzes die Terminologie mit einem anderen Gesetz (dem Fuß- und Wanderweggesetz) übereinstimmt, während dies im französischen Entwurf nicht der Fall ist. Wie diese Frage im italienischen Gesetzesentwurf gelöst ist, darüber erfährt man nichts, auch nicht in der italienischen Fassung der Botschaft, die sich nur auf den deutschen und den französischen Entwurf bezieht und implizit davon ausgeht, dass der deutsche Entwurf die Originalfassung ist („Nella versione francese il termine tedesco ‚übertragen‘ è reso con ‚déléguer‘, mentre nella LPS è espresso con ‚confier‘“). Daran zeigt sich, dass das Italienische, anders als das Deutsche und das Französische, nicht an der Ko-Erarbeitung der Sprachfassungen beteiligt war und erst weit hinten im Verfahren als reine Übersetzungssprache ins Spiel kam.

Zwischen einem Gesetzestest in seiner deutschen, französischen und italienischen Fassung und der dazugehörigen Botschaft, die ebenfalls in einer deutschen, französischen und italienischen Fassung vorliegt, entspannt sich somit ein höchst komplexes, sprachübergreifendes Intertextualitätsgefüge.

 

5 Fazit

< 17 >

Im Schweizer Gesetzgebungsverfahren haben sich zwei Textsorten herausgebildet, die funktional komplementär sind. Das Gesetz einerseits ist direktiv. Es soll ausschließlich normativen Gehalt haben, da eine Vermischung von Normen und Informationen über diese Normen zu Abgrenzungs- und Interpretationsschwierigkeiten führen könnte.

Wenn sich das Gesetz den Mantel eines Lehrbuchs anwirft, so gibt es sich den Anschein, überzeugen zu wollen, sich der Diskussion zu stellen, anstatt klarzustellen, was es tut, nämlich die Sache bereits entschieden zu haben.

(Gal 2019: 9).

 

Die Botschaft andererseits liefert die Hintergrundinformationen zum Gesetz und versucht so, das Gesetz zu erklären und seine Akzeptanz bei der Zielgruppe zu erhöhen. Sie hat einen informativen und persuasiven Charakter.

< 18 >

Doch Achtung: Die Botschaft darf nicht der Vorwand dafür sein, dass die Gesetzesbestimmungen selbst unklar formuliert werden, mit der Begründung, sie würden ja in der Botschaft näher erläutert (und es lese sowieso kein Mensch die Gesetzesbestimmungen). Die Gesetzesnormen als Kerninhalt müssen aus sich selbst heraus verständlich sein. Eine unverständliche Gesetzesnorm kann nicht durch eine gute Erklärung in der Botschaft „geheilt“ werden, denn der Botschaft fehlt gerade die normative Kraft des Gesetzes. Es braucht also beides: eine verständliche Rechtsnorm und eine (allgemein-)verständliche Erläuterung dazu.

 

Fußnoten

1 Früher herrschten teilweise andere Auffassungen vor. Vgl. für einen Überblick Fögen (2007: 9–23); Mertens (2004: 312–325).

2 Parlamentsgesetz vom 13. Dezember 2002 (ParlG), SR 171.10. Alle Schweizer Gesetze sind online abrufbar in der Systematischen Rechtssammlung (SR), www.fedlex.admin.ch, unter Eingabe ihrer Abkürzung oder ihrer SR-Nummer.

3 Alle Botschaften und Gesetzesentwürfe sind online abrufbar im Bundesblatt, www.fedlex.admin.ch > Bundesblatt > Ausgaben des Bundesblatts, unter Eingabe der Jahrzahl und ihrer Nummer.

4 Hervorhebungen in Zitaten und Beispielen stammen, wo nicht anders angegeben, jeweils aus dem Original.

5 Ausnahme: Im Ingress des Gesetzestextes wird immer explizit auf die dazugehörige Botschaft verwiesen. Das Gesetz verknüpft sich selbst also mit seiner Begründung.

6 Bundesgesetz über den unterirdischen Gütertransport (UGüTG) (Entwurf), BBl 2020 8901; Botschaft vom 28. Oktober 2020 zum Bundesgesetz über den unterirdischen Gütertransport, BBl 2020 8849.

7 Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister) (Entwurf), BBl 2020 859; Botschaft vom 6. Dezember 2019 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister), BBl 2020 799.

8 Bundesgesetz über die Durchführung von internationalen Abkommen im Steuerbereich (StADG) (Entwurf), BBl 2020 9261; Botschaft zum Bundesgesetz über die Durchführung von internationalen Abkommen im Steuerbereich (Totalrevision des Bundesgesetzes über die Durchführung von zwischenstaatlichen Abkommen des Bundes zur Vermeidung der Doppelbesteuerung), BBl 2020 9219.

9 BBl 2020 8849.

10 Bundesgesetz über den unterirdischen Gütertransport (UGüTG) (Entwurf), BBl 2020 8901; Botschaft vom 28. Oktober 2020 zum Bundesgesetz über den unterirdischen Gütertransport, BBl 2020 8849, Ziff. 5.

11 Änderung des Bundesgesetzes über den Verkehr mit Tieren und Pflanzen geschützter Arten (BGCITES) (Entwurf), BBl 2020 7979; Botschaft vom 18. September 2020 zur Änderung des Bundesgesetzes über den Verkehr mit Tieren und Pflanzen geschützter Arten, BBl 2020 7965, Ziff. 5.

12 Änderung des Bundesgesetzes über den Verkehr mit Tieren und Pflanzen geschützter Arten (BGCITES) (Entwurf), BBl 2020 7979; Botschaft vom 18. September 2020 zur Änderung des Bundesgesetzes über den Verkehr mit Tieren und Pflanzen geschützter Arten, BBl 2020 7965, Ziff. 5.

13 Veloweggesetz (Entwurf), BBl 2021 1261; Botschaft vom 19. Mai 2021 zum Veloweggesetz, BBl 2021 1260, Ziff. 5.1.

 

6 Literaturverzeichnis

 

Adamzik, Kirsten (2016). Textlinguistik. Grundlagen, Kontroversen, Perspektiven. 2., völlig neu bearbeitete, aktualisierte und erweiterte Neuauflage. Berlin/Boston, de Gruyter.

Botschaftsleitfaden = Bundeskanzlei (Hrsg.) (2020). Botschaftsleitfaden. Leitfaden zum Verfassen von Botschaften des Bundesrates. 5., überarbeitete Ausgabe August 2020. Bern, Schweizerische Bundeskanzlei. https://www.bk.admin.ch/bk/de/home/dokumentation/sprachen/hilfsmittel-textredaktion/leitfaden-fuer-botschaften-des-bundesrates.html.

Bratschi, Rebekka (2021). „Was drin ist, muss auch draufstehen. Erlasstitel und ihre Funktionen“. In: Höfler, Stefan / Müller, Kevin (Hrsg.): Rechtsetzung als Textkonstitution. Sprachwissenschaftliche Zugänge zu modernen und historischen Rechtsquellen. Zürich/St. Gallen, Dike. 33–62.

Fögen, Marie Theres (2007). Das Lied vom Gesetz. München, Carl Friedrich von Siemens Stiftung.

Gal, Jens (2019). „Ta pathetika prooimia tes Europes. Zu Sinn und Unsinn der Erwägungsgründe“. Myops. Berichte aus der Welt des Rechts 13 (37), 4–19.

Gesetzgebungsleitfaden = Bundesamt für Justiz (Hrsg.) (2019). Gesetzgebungsleitfaden. Leitfaden für die Ausarbeitung von Erlassen des Bundes. 4., vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage 2019. Bern, Bundesamt für Justiz. https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/staat/legistik/hauptinstrumente.html.

Höfler, Stefan (2020). „Rechtsetzung im Mehrebenensystem: Redaktionelle Aspekte“. In: Uhlmann, Felix / Höfler, Stefan (Hrsg.): Rechtsetzung im Mehrebenensystem: Gemeinden, Kantone, Bund, EU. 18. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzungslehre. Zürich/St. Gallen, Dike. 29–56.

Lötscher, Andreas (1995). „Der Stellenwert der Verständlichkeit in einer Hierarchie der kommunikativen Werte von Gesetzen“. In: Watts, Richard J. / Werlen, Iwar (Hrsg.): Perspektiven der angewandten Linguistik. Neuchâtel, Institut de linguistique de l'Université de Neuchâtel. 109–127.

Mertens, Bernd (2004). Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen. Theorie und Praxis der Gesetzgebungstechnik aus historisch-vergleichender Sicht. Tübingen, Mohr Siebeck.

Müller, Georg / Uhlmann, Felix (2013). Elemente einer Rechtssetzungslehre. 3. Auflage. Zürich, Schulthess.

Nussbaumer, Markus (2002). „Grenzgänger – Gesetzestexte zwischen Recht und Politik“. In: Hass-Zumkehr, Ulrike (Hrsg.): Sprache und Recht. Berlin/New York, de Gruyter. 181–209.

Pfister, Manfred (1985). „Konzepte der Intertextualität“. In: Broich, Ulrich / Pfister, Manfred (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Unter Mitarbeit von Bernd Schulte-Middelich. Tübingen, Niemeyer. 1–30.